11

 

Eine vornehme Wohngegend am Rande von Berlin: Der hoch am Himmel stehende Mond warf silbernes Licht über den Wannsee. Im Garten seines Dunklen Hafens lehnte sich Andreas Reichen in seinem gepolsterten Lehnstuhl zurück und versuchte, etwas von dem Frieden und der Stille des Abends in sich aufzunehmen. Trotz der warmen, angenehmen Brise und der Ruhe des nachtdunklen Wassers war er in düsterer, aufgewühlter Stimmung.

Die Neuigkeiten vom neuesten Mord an einem Gen Eins, dieses Mal in Frankreich, bedrückten ihn zutiefst. Die Welt um ihn herum spielte zunehmend verrückt. Nicht nur seine Welt, die des Stammes, sondern auch die der Menschen. So viel Tod und Zerstörung. So viel Kummer und Qualen, wohin man auch schaute.

Tief in seinem Inneren hatte er das schreckliche Gefühl, dass das nur der Anfang war. Dunkle Zeiten zogen herauf.

Vielleicht taten sie das schon seit Langem, und er war zu unwissend gewesen - zu sehr in Anspruch genommen von seinen persönlichen Vergnügungen -, um es zu bemerken.

Eine dieser Vergnügungen kam gerade von hinten auf ihn zu, ihr eleganter Gang unverkennbar, als sie durch den gepflegten Garten über den Rasen schritt.

Helenes geschmeidige Arme schlangen sich um seine Schultern. „Hallo, Liebling."

Reichen hob die Hand, um ihre warme Haut zu streicheln, als sie sich über ihn beugte und ihn küsste. Ihr weicher Mund verweilte auf dem seinen, ihr langes, dunkles Haar duftete leicht nach Rosenöl.

„Als ich ankam, hat dein Neffe mir gesagt, dass du schon seit ein paar Stunden hier draußen bist", murmelte sie und hob den Kopf, um auf den See hinauszuschauen. „Ich kann verstehen, warum. Die Aussicht ist wunderbar."

„Sie ist eben noch hübscher geworden", sagte Reichen, hob das Gesicht und sah sie an.

Sie lächelte ohne Koketterie, seine Schmeicheleien war sie schon lange gewohnt. „Dich beunruhigt doch etwas, Andreas.

Es sieht dir nicht ähnlich, allein dazusitzen und zu grübeln."

Kannte sie ihn denn so gut? Sie waren seit dem letzten Jahr ein Liebespaar, eigentlich eine zwanglose Affäre, die irgendwie zu etwas Tieferem geworden war, wenn auch nicht völlig monogam. Reichen wusste, dass es in Helenes Leben noch andere Männer gab - menschliche Männer -, so, wie auch er sich gelegentlich mit anderen Frauen vergnügte. Ihre Beziehung war nicht von Eifersucht oder Besitzansprüchen belastet. Aber das bedeutete nicht, dass es zwischen ihnen keine Zuneigung gab. Sie bedeuteten einander viel, und es verband sie ein Vertrauen, das die Schranken überwand, die Beziehungen zwischen gewöhnlichen Menschen und Stammesvampiren normalerweise unmöglich machten.

Helene war eine Freundin für ihn geworden und, seit Neuestem, ein unentbehrlicher Partner für Reichens wichtige Zusammenarbeit mit den Kriegern in Boston.

Helene ging um den Stuhl herum nach vorne und setzte sich auf die breite Armlehne. „Hast du dem Orden die Neuigkeiten über das Attentat in Paris mitgeteilt?"

Reichen nickte. „Das habe ich, ja. Und sie sagten mir, dass es vor einigen Nächten auch in Montreal einen Mordversuch gegeben hat. Immerhin war der wie durch ein Wunder erfolglos. Aber es wird weitere geben. Ich fürchte, dass es noch sehr viel mehr Tote geben wird, bis es uns gelingt, die Sache unter Kontrolle zu bekommen. Der Orden ist davon überzeugt, dass sie diesem Wahnsinn Einhalt gebieten können, aber manchmal frage ich mich, ob das Böse, das hier am Werk ist, nicht größer ist als alles Gute auf der Welt."

„Du lässt dir das alles viel zu nahegehen", sagte Helene und strich ihm beiläufig das Haar aus der Stirn. „Weißt du, wenn du mit deiner Zeit irgendetwas Nützliches anfangen wolltest, wärst du zu mir gekommen statt zum Orden. Ich hätte dir einen Job in meinem Nachtclub geben können, als mein persönlicher Assistent. Es ist noch nicht zu spät, es dir anders zu überlegen. Und ich kann dir versichern, allein die Zusatzleistungen wären es wert."

Reichen kicherte. „Das ist allerdings verlockend."

Helene beugte sich zu ihm hinunter und knabberte an seinem Ohrläppchen, ihr warmer Atem kitzelte auf seiner Haut. „Es wäre natürlich nur eine befristete Stelle. So in etwa auf zwanzig oder dreißig Jahre - für dich vergehen die wie im Flug. Aber ich bin dann grau und runzelig, und du wirst dich nach einem neuen, reizvolleren Spielzeug umsehen, nach einer, die immer noch mit deinen verruchten Ansprüchen mithalten kann."

Reichen war überrascht, einen Anflug von Wehmut in Helenes Stimme zu hören. Sie hatte noch nie mit ihm über die Zukunft geredet, und er nicht mit ihr. Es war ihnen beiden mehr oder weniger klar, dass es für sie keine Zukunft geben konnte, da sie eine Sterbliche mit einer endlichen Lebensspanne war und er - solange er nur UV-Strahlung und schwere körperliche Verletzungen vermied - praktisch bis in alle Ewigkeit weiterleben konnte.

„Was verschwendest du deine Zeit mit mir, wenn du dir doch jeden Mann der Welt aussuchen könntest?", fragte er sie und fuhr mit den Fingern über ihre glatte Schulter. „Du könntest einen Ehemann haben, der dich auf Händen trägt, und einen ganzen Stall voll schöner, gescheiter Kinder."

Helene hob eine makellos gezupfte Augenbraue. „Ich schätze, ich war nie für ein konventionelles Leben gemacht."

Das war er allerdings auch nicht. Reichen musste sich eingestehen, dass es sehr einfach wäre, alles zu vergessen, was er und der Orden vor einigen Monaten entdeckt hatten. Er konnte das Böse vergessen, das sie bis zu der Berghöhle in der Böhmischen Schweiz verfolgt hatten. Er konnte sich vormachen, dass nichts von alldem existierte, konnte sein Wort, dass er den Kriegern auf jede ihm nur mögliche Weise helfen wollte, brechen. Es wäre die einfachste Sache der Welt, zu seiner Rolle als Leiter des Dunklen Hafens und seinem alten, sorglosen, libertinären Leben zurückzukehren.

Aber die einfache Wahrheit war, dass ihm dieser Lebensstil schon seit langer Zeit langweilig geworden war. Eine Frau hatte ihn vor langen Jahren einmal beschuldigt, ein ewiges Kind zu sein - selbstsüchtig und verantwortungslos. Sie hatte recht gehabt, sogar damals schon. Nein, besonders damals, als er so dumm gewesen war, diese Frau und die Liebe, die sie ihm gegeben hatte, durch die Finger gleiten zu lassen. Nach viel zu langen Jahrzehnten hemmungsloser Genusssucht fühlte es sich gut an, etwas wirklich Wichtiges zu tun. Oder es zumindest zu versuchen.

„Ich glaube nicht, dass du heute Nacht vorbeigekommen bist, um mich mit Küssen und attraktiven Stellenangeboten abzulenken", sagte er, denn nun spürte er, dass Helene ernst geworden war.

„Nein, leider nicht. Ich dachte, du solltest wissen, dass eines meiner Mädchen aus dem Club verschwunden ist. Du erinnerst dich vielleicht noch - Gina, eines meiner neueren Mädchen, kam letzte Woche mit Bisswunden am Hals zur Arbeit, ich hatte es erwähnt?"

Reichen nickte. „Das war die, die von ihrem reichen neuen Freund erzählt hat."

„Stimmt. Nun, es ist nicht das erste Mal, dass sie nicht zu ihrer Schicht angetreten ist, aber ihre Mitbewohnerin hat mir heute Nachmittag gesagt, dass Gina seit mehr als drei Tagen weder zu Hause war noch angerufen hat. Es muss nichts zu bedeuten haben, aber ich dachte, du solltest es vielleicht wissen."

„Ja", sagte er. „Hast du irgendwelche Informationen über den Mann, mit dem sie zusammen war? Eine Beschreibung, ein Name, irgendwas?"

„Nein. Die Mitbewohnerin hat ihn natürlich nie gesehen, also konnte sie mir auch nichts über ihn sagen."

Reichen dachte an die zahlreichen Dinge, die einer jungen Frau zustoßen konnten, wenn sie sich unwissentlich mit einem Angehörigen seiner Spezies einließ. Obwohl die meisten Stammesvampire gesetzestreu waren, gab es auch andere, die ihre unzivilisierte Seite voll auslebten. „Ich möchte, dass du heute Nacht diskret im Club herumfragst, ob Gina ihren neuen Freund einem der anderen Mädchen gegenüber erwähnt hat. Ich brauche Namen, Orte, wo sie vielleicht zusammen hingegangen sind, selbst die kleinste Einzelheit könnte wichtig sein."

Helene nickte, aber in ihren Augen blitzte ein gewisses eindeutiges Interesse auf. „Diese ernsthafte Seite gefällt mir an dir, Andreas. Sie ist unglaublich sexy."

Ihre Hand fuhr in sein offenes Seidenhemd und an seinem Körper hinunter, ihre langen, lackierten Fingernägel spielten über die Wölbungen seiner Bauchmuskeln. Trotz seiner düsteren Gedanken reagierte sein Körper auf ihre erfahrene Berührung. Seine Dermaglyphen  begannen, sich mit Farbe zu füllen, und sein Blick wurde schärfer, als bernsteingelbes Licht in seine Iriskreise flutete. Und weiter unten wurde sein Schwanz hart, schwoll unter ihrer Handfläche an.

„Ich sollte wirklich nicht bleiben", murmelte sie, ihre Stimme heiser und aufreizend. „Ich will nicht zu spät zur Arbeit kommen."

Als sie Anstalten machte aufzustehen, hielt Reichen sie zurück. „Mach dir da mal keine Sorgen. Ich kenne die Frau, die den Laden führt, ich werde bei ihr ein gutes Wort für dich einlegen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass sie auf mich steht."

„Ach was?"

Reichen grunzte und entblößte mit einem breiten Grinsen die Spitzen seiner Fangzähne. „Die Ärmste ist mir komplett verfallen."

„Einem arroganten Kerl wie dir?", neckte Helene.

„Liebster, mach dir nur nichts vor. Was sie von dir will, ist wohl nur dein dekadenter Körper."

„Da ist was dran", meinte er, „aber so oder so, ich wäre dumm, mich zu beschweren."

Helene lächelte und leistete ihm nicht den geringsten Widerstand, als er sie für einen tiefen, hungrigen Kuss auf seinen Schoß zog.

 

Als es Abend wurde, hatte Lex sich vollständig von den höllischen Qualen erholt, die Renata ihm zugefügt hatte.

Seine Wut - sein schwärender Hass auf sie - blieb.

Wieder und wieder verfluchte er sie innerlich, als er sich im Zimmer eines rattenverseuchten Abbruchhauses im übelsten Viertel von Montreal gegen die schimmelnde Wand lehnte und zusah, wie ein junger Mann sich den Arm mit einem alten Ledergürtel abband. Das lose Ende zwischen kaputten, billigen Zähnen, stach der Junkie die Nadel einer schmutzigen Spritze in den Streifen von Schorf und Einstichwunden, der sich über seinen ausgemergelten Arm zog. Er stöhnte, als das Heroin ihm ins Blut drang.

 „Ach, Scheiße, Mann", murmelte er mit einem zittrigen Seufzer, löste den Ledergürtel und ließ sich auf eine stinkende Matratze auf dem Boden zurückfallen. Mit seinen tätowierten Händen fuhr er sich über sein blasses, pickeliges Gesicht und sein fettiges, braunes Haar. „Wow ... der Stoff ist echt erstklassig, Süßer."

„Ja", sagte Lex mit angesichts des dumpfigen Uringestanks in dem dunklen Zimmer erstickter Stimme.

Bei den Drogen hatte er keine Kosten gescheut; Geld war für ihn nicht von Bedeutung. Ohne Zweifel hatte dieser abgefuckte Stricher, den er da auf der Straße aufgesammelt hatte, noch nie einen so teuren Rausch erlebt. Lex würde darauf wetten, dass auch die speziellen Dienstleistungen des jungen Mannes ihm noch nie eine so hohe Summe eingebracht hatten. Er war ihm praktisch ins Auto gesprungen, als Lex neben ihm angehalten und ihm diskret einen Hundertdollarschein und eine Plastiktüte voll Heroin gezeigt hatte.

Lex legte den Kopf schief und sah zu, wie der Kerl seinen Rausch genoss. Sie waren allein in dem armseligen Raum in der leer stehenden Mietskaserne. Als sie hier angekommen waren, hatte das Haus noch von Obdachlosen und Junkies gewimmelt, aber es hatte Lex nur wenige Minuten gekostet - und einen seiner mentalen Befehle, denen sich niemand zu entziehen vermochte, ein Vorteil seiner Abstammung als Vampir Zweiter Generation -, um die Leute aus dem Haus zu treiben, sodass er für seine Angelegenheiten die nötige Ruhe hatte.

Der Junkie, immer noch auf dem Boden, zog sich nun sein ärmelloses T-Shirt über den Kopf und begann, seine weite, verdreckte Jeans aufzuknöpfen. Er spielte grob an sich herum, während er den Hosenschlitz öffnete, trübe Augen rollten in seinem Schädel, suchten lustlos im Dunkel. „Also, soll ich dir einen blasen, Mann?"

„Nein", sagte Lex, abgestoßen von der Vorstellung. Er kam von der anderen Seite des Zimmers her langsam auf den Junkie zu. Wie sollte er es angehen?, fragte er sich unentschlossen. Er musste diese Sache vorsichtig anpacken, ansonsten musste er sich unten auf der Straße einen anderen suchen.

Und damit wertvolle Zeit verschwenden. „Willst du dann lieber meinen Arsch, Baby?", nuschelte der Stricher. „Wenn du mich ficken willst, kostet das doppelt. Das sind meine Bedingungen."

Lex lachte leise auf, ehrlich belustigt. „Ich habe kein Interesse daran, dich zu ficken. Schlimm genug, dass ich dich ansehen und deinen widerlichen Gestank ertragen muss. Du bist nicht wegen Sex hier."

„Wofür dann, verdammt noch mal?" Eine Spur von Panik durchzog die abgestandene Luft, ein plötzlicher Adrenalinstoß, den Lex' geschärfte Sinne mühelos registrierten. „Du hast mich doch nicht auf ein nettes kleines Schwätzchen hergebracht, verdammt noch mal."

„Stimmt", gab Lex liebenswürdig zu.

„Okay. Also, wofür hältst du mich, Arschloch?"

Lex lächelte. „Für einen Köder."

Mit einem Satz, der so schnell war, dass nicht einmal ein Mensch mit klarem Kopf ihn hätte wahrnehmen können, schoss Lex nach vorn und zerrte den Junkie vom Fußboden hoch. Lex hatte ein Messer in der Hand. Er stieß es tief in den ausgemergelten Bauch des Mannes und verpasste ihm einen Schnitt quer über den Bauch.

Blut schoss aus der Wunde, heiß, nass und duftend. „Oh, Scheiße!", schrie der Mensch. „Verdammt noch mal, du stichst mich ab!"

Lex wich zurück und ließ den Mann los, der schlaff auf dem Boden zusammensank. Das war alles, was er tun konnte, um sich nicht in blindem Bluthunger auf ihn zu stürzen.

Lex' Körper reagierte prompt auf das frische, fließende Blut.

Sein Blick schärfte sich, seine Pupillen zogen sich zusammen, ein bernsteinfarbener Lichtschein wanderte durch den Raum, als sich seine Augen in Raubtieraugen verwandelten. Hinter seinen Lippen fuhren seine Fangzähne aus, Speichel schoss ihm in den Mund vor lauter Gier nach Nahrung.

Der Junkie schluchzte inzwischen, versuchte, seine klaffende Bauchwunde zusammenzupressen. „Bist du verrückt, du verdammtes Arschloch?", stammelte er. „Du hättest mich umbringen können!"

„Noch nicht", antwortete Lex durch seine Fänge.

„Ich muss hier raus", murmelte der Mann. „Muss Hilfe holen ..."

„Bleib", befahl Lex ihm und lächelte, als der schwache Wille des Mannes unter seinem Befehl brach.

Er musste sich dazu zwingen, auf Abstand zu bleiben.

Damit die Situation sich so entwickelte, wie er sie haben wollte. Bauchwunden bluteten stark, aber den Tod brachten sie nur langsam. Lex brauchte den Mann noch eine Weile lebend, so lange, bis sein Duft auf die Straße hinaus und in die angrenzenden Seitengassen gedrungen war.

Der Mensch, den er sich heute Nacht gekauft hatte, nichts weiter als ein Köder an seinem Angelhaken. Denn Lex hatte vor, größere Fische zu fangen.

Er wusste so gut wie jeder andere Angehörige seiner Spezies, dass nichts einen Vampir schneller oder zuverlässiger anzog als die Aussicht auf blutende menschliche Beute. So tief in der übelsten Gegend der Stadt, wo selbst der Abschaum der menschlichen Gesellschaft in stummem Entsetzen umherhuschte, zählte Lex auf die Anwesenheit von Rogues.

Er wurde nicht enttäuscht.

Es war nur eine Frage von Minuten, bis die ersten beiden schnüffelnd um das Abbruchhaus strichen. Rogues waren unrettbar süchtig, genau wie der Junkie, der sich wie ein Fötus auf dem Boden zusammengerollt hatte und leise vor sich hin winselte, während sein Leben langsam aus ihm herausrann.

Obwohl nur wenige Stammesvampire der Blutgier, dem andauernden, unersättlichen Durst nach Blut verfielen, erholten sich diejenigen, die es taten, so gut wie nie davon.

Sie hausten am Rande der Gesellschaft, waren verwilderte, entwurzelte Monster, deren Leben nur noch dem einen Zweck diente: ihren Hunger zu stillen.

Lex glitt in die Ecke zurück, als die beiden Raubtiere ins Zimmer geschlichen kamen. Sofort fielen sie über den Menschen her und zerrissen ihn mit ausgefahrenen Fängen, ihre Augen brannten in der Farbe und Hitze von Feuer.

Ein weiterer Rogue fand das Zimmer. Dieser war größer als die anderen beiden, brutaler, als er sich in das Gemetzel warf und zu fressen begann. Unter den verwilderten Vampiren brach eine Rangelei aus. Die drei gingen aufeinander los wie geifernde, tollwütige Hunde. Fäuste hämmerten, Finger kratzten, Fangzähne rissen durch Fleisch und Knochen, jeder der riesigen Männer kämpfte wild um seine Beute.

Lex sah ihnen gebannt zu. Ihm schwindelte angesichts der Gewalt, die sich vor seinen Augen abspielte, und der starke Blutgeruch von Mensch und Vampiren berauschte ihn.

Er beobachtete und wartete.

Die Rogues würden einander bis auf den Tod bekämpfen, wie Wildtiere - die sie ja auch waren. Am Ende würde nur der Stärkste überleben.

Und das war der, den Lex brauchte.

Nachdem er den ganzen Tag lang gewartet hatte, dass es Abend wurde, hatte er jetzt nur noch zwei Stunden totzuschlagen, bevor er seinen Flieger nach Boston nehmen konnte.

Nikolai dachte ernsthaft daran, seine Verabredung mit dem Flughafen einfach sausen zu lassen und sich stattdessen zu Fuß aufzumachen, aber selbst mit der dem Stamm eigenen Kondition und Turbogeschwindigkeit würde er es nicht einmal durch den Bundesstaat Vermont schaffen, bevor der Sonnenaufgang ihn wieder in ein Versteck zwang. Und bei dem Gedanken, sich am Arsch der Welt in irgendeiner Scheune bei aufgescheuchtem Stallvieh einzuquartieren, war er nicht direkt wild darauf sich ein Paar Nikes überzuziehen und loszusprinten.

Also würde er eben warten. Verdammt.

Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Bis die Sonne endlich untergegangen war und er aus dem schützenden Mausoleum heraus konnte, war er vor Langeweile fast übergeschnappt.

Es musste wohl diese Langeweile gewesen sein, die ihn in das übelste Viertel von Montreal führte, wo er hoffte, sich die restliche Wartezeit mit etwas Action zu vertreiben. Was für Action, war ihm ziemlich egal, aber er suchte sich gezielt den Teil der Stadt aus, wo die Chancen gut standen, dass man mit Fäusten oder Waffen etwas Dampf ablassen konnte.

Hier in diesem Straßenzug von billigen Mietskasernen und rattenverseuchten Seitengassen bestand sein unmittelbares Angebot lediglich aus Cracksüchtigen, Drogen- oder Menschenhändlern und Prostituierten beiderlei Geschlechts, die mit leerem Blick durch die Straßen zogen. Immer wieder wurde er dumm angeglotzt, als er recht ziellos die Straße entlangbummelte. Einer war sogar dumm genug, ihm im Vorbeigehen eine Messerspitze zu zeigen, aber Niko blieb bloß stehen und grinste den zahnlosen Drecksack einladend an, sodass seine Grübchen und Fangzähne gut zur Geltung kamen, und schon war er das Problem los.

Obwohl er nie vor einem Kampf zurückschreckte, war es doch etwas unter seiner Würde, sich mit Menschen zu schlagen. Ihm war nach einer wirklichen Herausforderung. Es juckte ihn förmlich in den Fingern, einen Rogue zu finden. Im letzten Sommer war Boston von blutsüchtigen Vampiren geradezu überrollt worden. Die Kämpfe waren hart und blutig gewesen - der Orden hatte einen tragischen Verlust erlitten -, aber Nikolai und die übrigen Krieger hatten es zu ihrer Mission gemacht, die Stadt von Rogues zu säubern.

Auch in anderen Ballungsgebieten verlor der Stamm gelegentlich einen Zivilisten an die Blutgier, und Niko würde sein linkes Ei darauf verwetten, dass es in Montreal nicht anders war. Aber außer den Zuhältern, Dealern und Huren waren diese hundert Meter Ziegelmauern und Asphalt in etwa so tot wie die Gruft, in der er gezwungenermaßen den Tag verbracht hatte.

„Hey, Baby." Die Frau lächelte ihn aus einem dunklen Hauseingang an, als er an ihr vorbeiging. „Suchst du was Besonderes, oder machst du nur einen Schaufensterbummel?"

Nikolai grunzte, aber er blieb stehen. „Ich bin einer von der besonderen Sorte."

„Na, vielleicht hab ich ja, was du brauchst." Sie grinste ihn an und hopste von der betonierten Veranda, auf der sie gehockt hatte. „Sogar ziemlich sicher. Genau das, was du brauchst, Süßer."

Sie war keine Schönheit mit ihrem spröden, auftoupierten messingblonden Haar, stumpfen Augen und fahler Haut, aber Nikolai würde sowieso nicht viel Zeit damit verbringen, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie roch sauber, wenn Deoseife und Haarspray denn als saubere Gerüche gelten konnten. Für Nikos überscharfe Sinne stank die Frau gegen den Wind nach Kosmetik und Parfüm, und dem unterschwelligen Geruch nach, der aus ihren Poren drang, hatte sie erst vor Kurzem Drogen konsumiert.

„Und? Was sagste?", fragte sie und kam zu ihm. „Gehen wir ein Weilchen irgendwohin? Für zwanzig Mäuse kriegste bei mir 'ne halbe Stunde."

Nikolai starrte auf den Puls, der am Hals der Frau schlug.

Es war schon einige Tage her, dass er zum letzten Mal Nahrung zu sich genommen hatte. Und er hatte noch zwei ganze Stunden totzuschlagen ...

„Okay", sagte er und nickte ihr zu. „Gehen wir spazieren."

Sie nahm seine Hand und führte ihn um die Ecke des Gebäudes, eine leere Seitengasse hinunter.

Nikolai verschwendete keine Zeit. Sobald sie außer Sichtweite von potenziellen Schaulustigen waren, nahm er ihren Kopf in die Hände und entblößte ihren Hals. Ihr erschrockener Aufschrei verstummte in dem Moment, als er seine Fangzähne in ihre Halsschlagader schlug und zu trinken begann.

Das Blut der Frau war unspektakulär - der übliche schwere Kupfergeschmack von menschlichen roten Zellen, aber versetzt mit der bitteren Süße des Cocktails aus Heroin und Kokain, den sie sich heute Abend vor der Arbeit in die Vene gejagt hatte.

Nikolai schluckte einige Mundvoll, spürte, wie die Energie des Blutes mit einem leisen Vibrieren durch seinen Körper schoss. Es war nicht ungewöhnlich für einen Stammesvampir, beim Akt der Nahrungsaufnahme in sexuelle Erregung zu geraten. Es war eine rein körperliche Reaktion, ein Erwachen von Zellen und Muskeln.

Dass sein Schwanz jetzt völlig erigiert war und sich gegen seine Hose spannte, überraschte ihn keineswegs. Es waren die plötzlichen Gedanken an eine gewisse Schönheit mit rabenschwarzem Haar - die er nicht wiederzusehen beabsichtigte -, die Niko alarmiert zurückzucken ließen.

„Mmm, hör nicht auf, stöhnte seine Begleiterin und zog seinen Mund wieder zu der Wunde an ihrem Hals. Das Gefühl, während Niko von ihr trank, war nicht nur für Niko, sondern auch für sie berauschend, so wie es bei allen Menschen der Fall war, an deren Blut sich Vampire labten.

„Hör nicht auf, Baby."

Bernsteingelbes Feuer flutete in Nikolais Augen, als er wieder auf ihren Hals herunterfuhr. Er wusste, dass sie nicht Renata war, aber als seine Hände die nackten Beine der Frau hinauf und unter ihren kurzen Jeansrock glitten, stellte er sich vor, dass es Renatas atemberaubend lange Schenkel waren, die er da streichelte. Er stellte sich vor, dass es Renatas Blut war, das ihn nährte. Renatas Körper, der so erregt auf seine Berührung reagierte.

Es war Renatas fiebriges Keuchen, das ihn antrieb, als er den billigen Stringtanga mit einer Hand zerriss und mit der anderen seinen Schwanz befreite.

Er musste in ihr sein.

Er musste ...

 Was zum ...

Eine leichte Brise kam durch die Gasse gewirbelt und brachte ihm den Geruch von Rogues. Und von vergossenem Blut. Menschenblut. Verdammt viel davon, vermischt mit dem üblen Gestank von blutenden Rogues.

Nikolai erstarrte vor Schock, die Hand immer noch auf seinem Hosenschlitz.

„Herr im Himmel."

 Was zur Hölle war da los?

Er zerrte den Rock der Frau wieder hinunter, fuhr mit der Zunge über ihre Halswunde und versiegelte den Biss. „Ich hab gesagt, hör nicht au..."

Niko gab ihr keine Chance, den Satz zu beenden. Er wischte ihr mit seiner Handfläche über die Stirn und löschte das Geschehene aus ihrer Erinnerung. „Verschwinde", sagte er zu ihr. „Los, hau ab."

Bis sie ihre Benommenheit abgeschüttelt und sich in Bewegung gesetzt hatte, rannte er schon die Gasse hinauf.

Er folgte seiner Nase zu dem baufälligen Gebäude, nicht weit von dort, wo er eben gewesen war. Der Gestank kam von drinnen, ein paar Stockwerke über der Straße.

Nikolai stieg das unbeleuchtete Treppenhaus hinauf bis zum zweiten Stock. Inzwischen tränten ihm die Augen von dem überwältigenden Gestank nach Tod, der unter einer geschlossenen Wohnungstür hervordrang. Mit der Hand auf der Waffe an seiner Hüfte näherte Niko sich der Wohnung.

Von der anderen Seite der verbeulten, graffitiübersäten Tür war kein Geräusch zu hören. Nur Tod, von Menschen und Vampiren.

Niko drehte am Türknauf, der nicht abgeschlossen war, und wappnete sich gegen das, was er vorfinden würde. Es war ein Massaker gewesen.

Ein Mensch, offensichtlich ein Junkie, lag verdreht auf dem Rücken, zwischen gebrauchten Einwegspritzen und anderem Müll, der den blutgetränkten Boden und eine verdreckte Matratze übersäte. Die Leiche war so übel zugerichtet, dass sie kaum noch als Mensch erkennbar war, ganz zu schweigen davon, ob Mann oder Frau. Auch die beiden anderen Leichen waren schlimm verunstaltet, aber es waren definitiv Stammesvampire - beide von ihnen Rogues, schon ihrer Größe und ihrem Geruch nach.

Nikolai konnte erraten, was hier wahrscheinlich geschehen war: ein tödlicher Kampf um Beute. Dieser Kampf war wohl erst wenige Minuten her. Und die beiden toten Blutsauger hatten es allein nicht geschafft, einander so gründlich in Fetzen zu reißen, bevor der eine oder andere krepierte.

Bei diesem Gemetzel musste noch mindestens ein weiterer Rogue beteiligt gewesen sein.

Wenn Niko Glück hatte, war der Sieger vielleicht immer noch irgendwo in der Nähe und leckte seine Wunden. Das hoffte er, denn er brannte darauf, dem degenerierten Mistkerl eine Kostprobe aus seiner .9mm zu verpassen.

Nichts löste sich schneller auf als das verseuchte Blutsystem eines Rogue, im allergischen Schock nach einer Dosis giftigem Titan.

Nikolai ging zu dem vernagelten Fenster hinüber und riss die rohen Bretter zur Seite. Er hatte Action haben wollen - jetzt hatte er sie haufenweise. Unter ihm auf der Straße stand ein riesiger Rogue. Blutüberströmt und zerschlagen, sah er aus wie jemand aus den tiefsten Abgründen der Hölle.

Aber, verdammt und zugenäht ... er war nicht allein.

Alexej Jakut war bei ihm.

Unglaublich, Lex und der Rogue gingen zusammen zu einer wartenden Limousine und stiegen ein.

„Was zur Hölle hast du denn vor?", murmelte Niko leise, als der Wagen die Straße hinaufraste.

Er wollte schon aus dem offenen Fenster steigen und ihnen zu Fuß folgen, als hinter ihm ein schriller Schrei ertönte. Eine Frau hatte sich an den Schauplatz des Gemetzels verirrt und starrte ihn nun entsetzt an, einen zitternden, anklagenden Finger in seine Richtung ausgestreckt. Wieder schrie sie, laut genug, um jeden Cracksüchtigen und Dealer der Nachbarschaft aufmerksam zu machen.

Nikolai betrachtete die Zeugin und die blutigen Spuren des Kampfes, der so gar nichts Menschliches mehr an sich hatte.

„Verdammt", knurrte er und warf einen Blick über die Schulter, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Lex' Wagen um die Ecke verschwand. „Es ist okay", sagte er zu der kreischenden Furie, als er das Fenster verließ und sich ihr näherte. „Du hast nichts gesehen."

Er löschte ihre Erinnerung aus und stieß sie aus dem Zimmer. Dann zog er eine seiner Titanklingen und stach damit in die sterblichen Überreste eines der toten Rogues.

Als sich die Leiche zischend zu zersetzen begann, machte sich Niko daran, auch den Rest des Gemetzels zu beseitigen, den Lex und sein ungleicher Verbündeter hinterlassen hatten.

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